Zeitweise ergeben sich dadurch Aufnahmen sehr spontan – so spontan, dass ich später beim Sichten und Entwickeln nicht mehr feststellen kann, wie, wo und was ich fotografiert habe.
Zufall und Notwendigkeit gehören jedoch zum Konzept.
Das Wissen um die aufgenommene Situation ist anschließend nicht mehr relevant.
Die gelungene Transformation ist das Entscheidende.
Die Transformation der Visualisierung des Wirklichen, Greifbaren, Erkennbaren in die Vision des nicht unmittelbar Greifbaren, Abstrakten – einer nicht minder realen Wirkung.
Das Eine wie das Andere verwurzelt in der Realität der Dinge.
So zeigt die Fotografie letztendlich dennoch nur das was ist. Sie zeigt die gleiche Wirklichkeit, wie z.B. eine statische Fotografie der selben Situation. In der Treue der Abildung besteht prinzipiell kein Unterschied. Der Unterschied besteht nur in der Art der Betrachtung und der dieser Betrachtung durch den Betrachter zugewiesenen Bedeutung.
Eine nachträgliche „künstl(er)i(s)che“ Aufarbeitung findet nicht statt.
Die abstrakte Fotografie entsteht beim fotografieren; ausschließlich.
Die Selektion der einen Aufnahme unter vielen jedoch, wird durch die gleichen Kriterien bestimmt, die jeder bewussten Gestaltung zu Grunde liegen.
Diese Vorgehensweise ist meine Entscheidung.
Meine frei gewählte Beschränkung, über die Aufnahme hinaus, nicht weiter einzugreifen.
Und genau in dieser Hinsicht gibt es eine weitere Ebene der Betrachtung, die mich fasziniert.
Trotz aller – scheinbaren – Abstraktion und der folgenden Transformation durch die Art der Fotografie, bilden diese Aufnahmen eben faktisch und unverfälscht, wirkliche, gegenständliche Situationen ab, unabhängig davon, ob ich diese erkenne oder in der Transformation etwas anderes Neues wahrnehme – direkt visuell oder indirekt fühlend.
Letztendlich gilt dies natürlich für jede visuelle Wahrnehmung.
Letztendlich erscheint jede visuelle Wahrnehmung zuerst abstrakt, und sie bleibt es solange, bis ich etwas mit ihr verbinde, etwas das außerhalb dieser visuellen Wahrnehmung liegt.
Jede visuelle Darstellung ist eine graduelle Abstraktion des Dargestellten, eine Abstraktion der durch die Augen und den Verstand vermittelten Wirklichkeit.
An zwei Monitoren vorbei blicke ich auf das alte Kastenfenster und seine zwei Glasscheiben. In der unsichtbaren Sommersonne angenehm leuchtend grüne, stumme Blätter, lassen meinen Blick verharren bis ihr Abbild beginnt zu solarisieren. Eine erfrischende Ahnung von klarem, blauem Himmel. Stille. Windstille. Nordseite. In der Wohnung gegenüber läuft, wie so oft, ein Zeichentrickfilm. Die Zeitanzeige, links unten auf dem rechten Monitor, 11:21. Ich bin ein Kind der Sonne. Sonnenschein macht mich glücklich, wahnsinnig glücklich. Auch damals, zu Fuß die Ngong Road entlang, in heißes Feucht getaucht, kurz vor dem Ertrinken in dieser scheinbar stagnierenden Wärmeflut, hatte ich keinen Hass auf die Sonne. Im Gegenteil. Sterben mit der Sonne glühenden Wärme auf meiner Haut, muss eine angenehme Art und Weise sein das Licht auszuschalten.
Klopfen im Hintergrund. An der Tür? Ja, muss die Tür sein. Klopfen an der Tür. Aber wer oder was klopft , und warum? Ich erwarte nichts und niemanden. Klopfen. In beinahe regelmäßigem Abstand nun. Klopf, klopf, klopf. Ob das mal aufhört? Warum klopfen und nicht klingeln? Ein Zwerg? Gut, ich schnappe mir die weiße Fahne, schiebe die Maus nach vorne, stehe auf, gehe durchs Zimmer, die Küche - ein paar Kinder spielen kichernd mit dem Fußball auf dem Parkplatz zwischen den Häusern -, in den Flur. Da klopft wirklich jemand auf die Wohnungstür. Vor dem Spion steht ein großer Mann mit dunklem Gesicht, Nickelbrille, kurzem, graumeliertem Vollbart und noch kürzeren blonden Haaren. Er trägt einen schwarzen Anzug mit makellos weißem Hemd unter dem Sakko und einen hell rosa Schlips. Sein Anblick fasziniert mich. Ich drücke den Riegel aus der Falle, ein Knall auf Metall, und öffne vorsichtig die Tür. Wir schauen uns in die Augen. Meine schweifen kurz ab. Nackte, umwerfend schöne Füße. Ein wohliges Gefühl schwärmt in meinen Kopf.
„Draußen ist Krieg!“
„Was? Wovon reden Sie?“
„Lesen Sie keine Zeitung? Fernseher, Radio, Internet?“
„Letzteres. Draußen ist kein Krieg.“
„Woher wissen Sie das?“
„Nicht aus der Zeitung.“
„Das sagten Sie bereits.“
„Also …“
„Unschuldige Menschen sterben.“
„Machte das einen Unterschied, Schuld oder Unschuld?“
„Nehmen Sie Passagierflugzeuge. Hunderte unschuldige Menschen, die nichts ahnend umher fliegen, stürzen vom Himmel.“
„Von wem sonst. Nichts ahnend? O.k., aber woher wissen Sie, dass die alle unschuldig sind? – Diesen Krieg meinen Sie. Die Ukraine.“
Die zu fotografierende Situation, das Motiv, ist nicht inszeniert.
Die Situation, das Motiv, wird für die Fotografie nicht manipuliert.
Das Fotografieren selbst ist die Inszenierung.
2.
Die Kamera, eine DSLR mit geeigneter Größe, Gewicht und Technik, wird in einer, oder mehreren, komplexen, sehr schnellen, durch das Motiv und die Beziehung zum Motiv motivierten (sic) Bewegung, frei mit der Hand geführt.
Der Bezug zum Motiv wird weder über den Sucher noch einen Monitor, sondern mit bloßem Auge hergestellt.
3.
Die Parameter und Automatiken der Kamera sind derart manipuliert, dass die Kamera, bestmöglich für diese Art der Fotografie, im passenden Moment scharf stellt, auslöst, belichtet und aufzeichnet.
Die effektive Belichtungszeit liegt bei maximal einer Sekunde, meist weit darunter.
Für jede einzelne Fotografie wird nur einmal ausgelöst.
4.
Das ursprüngliche, nicht flüchtige Motiv, die Situation, muss durch die Fotografie vollständig chiffriert, aufgelöst, abstrahiert werden.
Das ursprüngliche Motiv darf nicht mehr zu dechiffrieren sein. Das ursprüngliche Motiv wird zerstört.
Es dient nur als Ausgangsmaterial für das, duch die Aktion der handgeführten Kamera erst zu erzeugende, neue, temporäre Motiv.
5.
Das Ergebnis dieser Destruktion und Transformation muss dem Betrachter dennoch bildlichen, assoziativen Halt geben.
Trotz der nicht vollständig bestimmbaren Verhaltensweise der Kamera und der durch die Bewegung erzielten Belichtung während der Fotografie, darf die Fotografie selbst keine zufällige oder beliebige Komposition zeigen.
Im Gegenteil muss die Komposition das neue Motiv gezielt, klar und bewusst in den Vordergrund stellen.
Schon vor der Fotografie existiert eine Vorstellung von diesem neuen Motiv, welches wiederum der Auslöser war, genau diese Situation überhaupt auszuwählen (s.a. 2.).
6.
Unter den zahlreichen, in einem iterativen, rückkoppelnden, nur der Digitalfotografie möglichen Prozess aus Bewegung, Aufnahme, Grobkontrolle der Aufnahme an der Kamera, Optimierung der Bewegung, etc., entstehenden Aufnahmen eines Motivs, wird also diejenige Fotografie ausgewählt, welche den Anforderungen aus 4. und 5., sowie meinem Empfinden für Ästhetik und Gestaltung, am deutlichsten entspricht.
7.
Die RAW Aufnahme wird, wie in der klassischen analogen Fotografie, durch Optimierung von Schärfe, Farbe, Kontrast und Helligkeit, auf das Empfinden der erinnerten Situation hin digital entwickelt.
Die Aufnahme wird nicht, weder digital noch analog, durch Ausschnittveränderung, Verkleinerung, Montage, Entzerrung, Farbersetzung, Filter, etc., etc., etc. ... manipuliert.
Die entwickelte Fotografie entspricht unverändert der vom Kamerachip aufgezeichneten Geometrie und Komposition im Rahmen der Relationen des aufgezeichneten Farb- und Kontrastumfangs.
Ein Abzug der Fotografie wird von mir einmalig als Giclée mit UltraChrome HDR Pigmenttinte auf Photo Rag Baryta Papier angefertigt.
Der vollständige Prozess kann also beschrieben werden, als der von einer optisch destruierenden und transformierenden Aufzeichnung einer statischen, analogen Situation, mittels der analogen, einmaligen und nicht zu reproduzierenden Bewegung des bildgebenden digitalen Mediums im Raum, und somit ein prinzipiell beliebig manipulierbares und vervielfältigbares Abbild in der digitalen Domain erzeugender, dieses Abbild jedoch wieder optisch unverändert in die analoge Domain, einer einmaligen Ausgabe auf analogem, physisch fassbarem Material, transformierender Prozess.
Aus der Ferne, offenbar noch von weit vor ihr kommend, hörte sie jetzt ein gleichmäßiges Zischen, unterfüttert mit einer kräftigen Bassfrequenz, die ihre Innereien in unbehagliches Schwingen versetzte; die sie mehr spürte, als akustisch wahrnahm. Die Intensität beider Klänge verstärkte sich geringfügig, aber stetig.
Vereinzelt sah sie Personen in der Halle, die wirklich von Panik ergriffen schienen, die Münder weit geöffnet und wild mit den Armen rudernd, wodurch sie jedoch nichts erreichten, und von den Nachfolgenden unnachgiebig und unbeachtet einfach weiter geschoben wurden. Alle anderen stierten beinahe glücklich und gelassen geradeaus. Erst jetzt viel ihr auf, das sie keinerlei Stimmen wahrnahm. Sie öffnete den Mund, sprach, schrie, hörte aber nichts.
Zwischen die sie umgebenden Köpfe hindurch gelang ihr ein Blick in die Tiefe der Halle. Sie erschrak, hatte den Eindruck, ihr Puls würde einen Schlag überspringen. Am Ende der Halle, und anscheinend weiter weg, als die Halle lang erschien, klaffte ein gigantisches, düsteres Loch im Gebäude. Sie konnte keinen Himmel erkennen. Gleich einem Schwarm Heuschrecken sah sie die Menschen in der Dunkelheit verschwinden.
Augenblicklich versuchte sie sich mit ganzer Kraft gegen die Bewegung zu stemmen, konnte dem Strom der pressenden, scheinbar bewusstlosen Menge nicht ausreichend standhalten, driftete jedoch immerhin, wie ursprünglich geplant, weiter zum Rundherum. Was, wenn sie daran vorbei trieb? Wann würde sie an der Reihe sein? Ausrasten oder cool bleiben? War das alles ein schlechter Witz? Scheiße. Auf jeden Fall klar bleiben. Beten oder Pumpgun? Keine Frage. Sie rutschte den Rucksack über ihre Schultern und Arme nach vorne, öffnete ihn, und gewahrte aus den Augenwinkeln, wie ein paar Gestalten den Kopf zu ihr drehten. Sie sah auf und schaute in reglose, weit geöffnete Pupillen.
Mit Armbewegungen, die sie nahezu in Zeitlupe ausführte, entnahm sie ihre Pumpgun, schloss den Rucksack wieder, schob ihn sich zurück auf den Rücken, hob die Waffe mit beiden Händen über ihren Kopf, zielte vor sich und … drückte den Abzug. Kein Geräusch. Kein Rückschlag. Die Gestalten folgten mit gebanntem Blick ihrem Tun, zeigten aber zu ihrer Erleichterung keine weitere Reaktion. Sie richtete ihre Augen nach oben und beobachtete, wie das Geschoss aus dem Lauf schwebte und weiter vorwärts durch die Luft kroch. Sie verzog ihren Mund zu einem wabernden, irren Grinsen. Immerhin die Richtung stimmte. Kurzerhand ließ sie die Waffe los und tatsächlich blieb sie frei über ihrem Kopf hängen. Konnte es sein, dass sie noch immer träumte? Stellte sich dir im Traum die Frage, ob du träumst? Würde das Geschoss die Dunkelheit vor ihr erreichen? Entnervt und sprachlos glitt sie am Rundherum vorbei. Der nächste Zugang war weit entfernt.
Die im Zeitraum von 2009 bis 2012 entstandenen Fotografien wurden mit einer Nikon D200 und einem Sigma 50mm 1:2.8 EX DG Macro D, sowie einem Sigma 24-70mm D 1:2.8 EX DG Macro aufgenommen.
Von der originalen abstrakten Fotografie, die hier verkleinert und in der Auflösung reduziert abgebildet ist, habe ich ein unikales Giclée auf Hahnemühle Photo Rag Baryta angefertigt, im Format 109 x 73 cm, signiert, datiert, registriert und zertifiziert als Digigraphie unter dem Namen BerHWolf.
Der Farbraum der Fotografien ist ProPhoto RGB. Systeme die kein Farbmanagement unterstützen, können Farbabweichungen in der Darstellung zeigen.
Für die temporäre Präsentation wird dieser Abzug lose gefasst in einem rahmenlosen Bildhalter der Größe A0, aufgebaut aus Alu-Dibond Rücken, Hahnemühle Einlagekarton, Passepartout in Museumsqualität und Mirogard Glas.
Die digitale Basis – das RAW Format mit allen Bildinformationen – wird archiviert und dient ausschließlich der Sicherung, entsprechend dem Negativ in der Film basierten Fotografie.
Du stellst aus oder hast Interesse an den Arbeiten?
Über Dein Deine Anfrage würde ich mich freuen.
Weitere technische Details
Entwicklung der Fotografie an einem kalibrierten und regelmäßig profilierten Eizo ColorEdge CG303W mit Adobe Photoshop Lightroom.
Druck und Profilierung via din.a.x Mirage ME Pro mit einem kalibrierten Epson Stylus Pro 9900 Spectoproofer Piezodrucker und 10 hoch lichtbeständigen Epson UltraChrome HDR Pigmenttinten, auf Basis eines speziell für das verwendete Papier erstellten Profils.
Maximaler Farbumfang und Auflösung – feinste tonale Abstufungen.
Entwicklung und Druck/Test unter Normlichtbedingungen (JUST D50).
Die verwendeten Materialien, sowie Kontrolle und Justierung der Geräte, ermöglichen höchste Farbtreue bei der Wiedergabe der Fotografie auf dem Giclée.
Kontrolliertes Klima in Arbeits- und Lagerraum.
Handhabung des Papiers mit Archivhandschuhen, nach Angaben des Herstellers.
Verwendung PAT und ISO 9706/16245 zertifizierter Materialien für Lagerung und Transport.
Die Fotografie in dieser Serie, ebenso wie die Fotografie in „Die Dinge die da sind“, illustriert nicht, jedenfalls nicht konzeptuell.
Mich interessiert die Situation als solche, das Licht, die Dinge und ihre visuelle Wirkung, ihre fotografische Interpretation, nicht die Situation als Komposition aus Requisiten, um durch die Fotografie einen Zusammenhang abzubilden, der außerhalb dieser Situation existiert.
Im Unterschied zu den Aufnahmen im Bereich „Die Dinge die da sind“, fotografiere ich für diese Serie mit einer hochauflösenden digitalen Spiegelreflexkamera.
Während also die einen Aufnahmen mit der Kamera eines Smartphones gemacht werden, mit einer Kamera fester Brennweite und relativ geringer Auflösung, die sich über ihre Positionierung hinaus in keiner Weise steuern lässt und die Entwicklung der Aufnahme als JPEG gleich mit übernimmt, das Fotografieren quasi einer Hightech Polaroid Lomografie gleicht, schafft die vielfältig steuerbare DSLR zusammen mit ihren Wechselobjektive Aufnahme- und Wiedergabemöglichkeiten, die so mit dem Smartphone nicht realisierbar sind, und ermöglicht dem Fotografen, wie in der analogen Film basierten Fotografie, die Entwicklung der RAW Daten - dem inhaltlichen Äquivalent des Negativs - zum fertigen Bild.
Im Fall der Smartphone Kamera sind auf Grund der unberechenbaren Umsetzung des gewählten Ausschnitts und der Lichtsituation durch die Kamera, teilweise mehrere Aufnahmen erforderlich, iterierend die Kamerahaltung korrigierend, bis da die eine Aufnahme entsteht, die so passt wie auf dem Monitor gesehen. Im Fall DSLR/RAW ist die Aufnahme geplant, eingestellt, abgestimmt, parametrisiert, die Umsetzung wesentlich zuverlässiger. Natürlich nehme ich auch hier mehrfach auf, jedoch aus anderem Grund, wie z.B. für Belichtungsreihen.
Die zu fotografierende Situation wird ausgesucht, jedoch nicht inszeniert. Die Situation existiert unabhängig von meinem Zutun, nicht jedoch meine Wahrnehmung und deren Inszenierung durch das Handling der Kamera.
In vielen Fällen würde eine fotografisch exakte Abbildung der vor Ort wahrgenommenen Situation, tatsächlich nicht der Wahrnehmung vor Ort entsprechen.
Das heißt, visuell würde das auf der Fotografie Abgebildete zwar in etwa dem entsprechen, was auch ursprünglich auf der Netzhaut ankommt, dessen Wahrnehmung also vor Ort Anlass für die Fotografie ist.
Das was auf der Netzhaut ankommt, ist jedoch meistens nicht das, was auch wahrgenommen wird. Das System Auge plus alle anderen Sinne plus Gehirn funktioniert anders als eine Fotografie, die zwar ein zweidimensionales, optisch korrektes Abbild liefert, losgelöst von der komplexen, vom Gehirn umfangreich gefilterten, ursprünglichen Situation, aber eben genau diese Filterung nicht so ohne weiteres reproduzieren kann.
Die Übertragung des vor Ort Wahrgenommenen in die Fotografie, geschieht durch Wahl von geeignetem Objektiv, Ausschnitt, Perspektive, Schärfeverlauf und Belichtung. Die resultierende zweidimensionale fotografische Abbildung gleicht der ursprünglichen Situation also nicht notwendigerweise visuell, wie allein vom Auge gesehen, sondern ist das Ergebnis des Versuchs mittels der Fotografie die Wirkung des vor Ort Wahrgenommenen, wie wahrgenommen und nicht nur wie gesehen zu reproduzieren.
Unter Umständen entsteht eine Aufnahme, die sogar stärker ist, als die vor Ort ursächlich wahrgenommene Situation, entsteht etwas Neues.
Insofern handelt es sich auch um keine dokumentarische Fotografie, wenngleich andererseits natürlich jegliche Fotografie, die nicht nachträglich manipuliert wurde, eine existierende Situation visuell abbildet, dokumentiert.
Meine Fotografie — Perspektive, Ausschnitt, Schärfe, Licht- und Farbumfang — entsteht durch das Fotografieren, nicht durch anschließende Bearbeitung, Verfremdung oder anderweitige Manipulation des digitalen Materials, mit dem Ziel erst durch diese Bearbeitung eine bestimmte, über die ursprüngliche Fotografie hinausgehende Aussage zu produzieren.
Die Aufnahme im RAW Format wird hinsichtlich Kontrast, Farbe und Schärfe, der erinnerten Situation entsprechend entwickelt, in einem Umfang der auf Methoden der analogen Fotografie basiert.
Die Titel funktionieren auf einer eigenen Ebene, stehen in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Aufnahme, jedoch in Beziehung zu dieser.
Der Farbraum der Fotografien ist ProPhoto RGB. Beim Betrachten in Browsern und Programmen die kein Farbmanagement beherrschen, sind grobe Farbabweichungen zu erwarten.
„Ukraine, Gaza, SMS, IS, Irak, MH370, MH17, WHO, Deutsche Bank, Antibiotika, Vollbeschäftigung, Waffenindustrie, NSA, NSU, BILD, Syrien, Religion, Organhandel, Roundup, Hunger, Ebola, Öl, Internet, Amazon, Facebook, Google, Galileo, Brown, Foley, und so weiter [Anm. d. A.: Bitte ersetzen ∨ erweitern Sie diese Schlagworte durch Schlagworte aus Ihrem eigenen Tunnel ∨ durch solche Schlagworte, die zur Zeit Ihrer Lektüre aktuell sind. Vielen Dank.], Namen und Orte spielen keine Rolle.“
„Da sagen Sie was. Sagen Sie einfach Mensch. - Kein Zweifel, die haben einen Passagier weggemacht. Ganz unauffällig! AIDS Konferenz. Vielleicht haben Sie das übersehen?“
„Nein, nein, hören Sie mir bloß auf mit diesen banalen Verschwörungstheorien. Echte Menschen sterben!“
„Sie machen merkwürdige Sätze. Die meisten Menschen sind echt, und sie sterben irgendwann; meistens ahnen sie auch davon nichts. Menschen sterben jeden Tag, hunderttausende lebende Tote nicht gezählt. Wir alle sind nur zeitweise. Was sollen wir tun? Ausreisen? Fliehen? Wohin? Uns dieser oder jener politischen oder religiösen Sekte anschließen, Irre werden, sinnloses Töten propagieren, selbst sinnlos Töten, sinnvoll Töten, invertierte Selbstschussanlagen reaktivieren, Passagierflugzeuge hochrüsten, Afrika verhungern statt verhandeln, Ausbeuten, Ausbeuten, Ausbeuten, Internet verbieten statt verkaufen, schreiben, schreiben, schreiben, reden, reden, reden, Ha Haha, an fremde Türen klopfen? An der Oberfläche scharren?“
„Leben geben, statt Leben nehmen. Bedingungslos.“
„Überbevölkerung? Menschen sterben? Mehr Leben, mehr Tod?“
„Zyniker? Sie nehmen mich nicht ernst, nehmen nicht ernst, was ich Ihnen sage. Immerhin denken Sie, oder Sie versuchen zumindest zu denken.“
„Ein Fluch. Nennen Sie mir einen Ausweg. Ich nehme Sie nicht ernst, nehme nicht ernst was Sie sagen? Zyniker? Überbevölkerung?!“
„An Interessen gebundene Propaganda. Ein Viertel der Menschheit, Tendenz steigend, verbraucht ein Übermaß an Ressourcen, die dem doppelten der aktuellen Population, bei mäßiger, effizienter, nachhaltiger Nutzung, ein mindestens ebenso gutes Leben ermöglichen würden, und zwar allen, und auf Dauer; im menschlichen Maßstab. Was heißt das wohl für die aktuelle Menschheit? Betrachten sie dies weiterhin unter dem Aspekt der Evolution, auch das macht Sinn.“
„Propaganda. Pickel, alles Pickel. Evolution lässt sich nicht steuern, sie geschieht. So oder so fehlen die Milliarden an Menschen, die in die gleiche Richtung blicken wie Sie. Davon abgesehen, wollen Sie wirklich Milliarden Menschen, die in die gleiche Richtung blicken? Und können Sie Ihre Zahlen überhaupt belegen, nachprüfbar, zweifelsfrei, sozusagen objektiv? Dennoch, interessante Pickel die Sie da haben. Möchten Sie nicht herein kommen und mir Ihre ganze Geschichte erzählen?“
„Einen Rat noch. Achten Sie mehr auf die Dinge an sich, nicht so sehr auf deren Bezeichner.“
„Hatten Sie einen Philosophen zu viel heut Morgen?“
Augenzwinkernd hebt er die Hand leicht winkend zum Abschied, geht die Stufen bis zum ersten Absatz hinunter, und verschwindet in der Rundung hinter dem massiven Treppenhauskern. Mein Gesicht entspannt sich ein wenig, ich klopfe an Martins Tür und lausche auf Schritte. Nichts. Ich klopfe erneut. Nichts zu hören. Ein letztes Mal. Stille. Ich drehe mich um, überlege was ich tun soll, drehe mich zurück und klopfe doch noch einmal. Nichts. Ich klopfe. Nichts. Ich warte. Ich klopfe. Nichts. Ich überlege, entweder ist er nicht zu Hause – doch wo sollte er sein um diese Zeit – oder er leugnet das Klopfen. Vielleicht der Schock durch die morgendlichen Ereignisse, oder das schlechte Gewissen, mir diesen Typen hinterher geschickt zu haben. Das schlechte Gewissen nach einer Lüge. Sofern er ein Gewissen hat. Macht das Sinn? Er wird uns beobachtet haben, belauscht. Ich klopfe ein weiteres letztes Mal. Die Tür bleibt verschlossen. O.k., alles ist gut. Das wird sich klären. Mit der rechten Hand ziehe ich den Schlüsselbund aus der linken Gesäßtasche, die Finger finden den passenden Schlüssel und das Schloss. Doch ich kann die Tür nicht aufschließen, der Schlüssel lässt sich nicht drehen. Die Tür ist gar nicht abgeschlossen. Hatte ich vergessen die Tür abzuschließen? Unwahrscheinlich, aber möglich. Ich drücke die Klinke nach unten, die Tür nach innen, ziehe meine Schuhe aus und gehe hinein, drehe mich um, bücke mich, nehme die Schuhe auf, klappe die Tür zu, stelle die Schuhe auf die Schuhablage neben der Tür, wende mich wieder zurück zur Tür und schließe ab. In der Küche, auf dem Weg ins Arbeitszimmer, lege ich Portemonnaie, Schlüssel und Revolution auf den schwedischen Küchenwagen aus China. Ich gehe am Kühlschrank vorbei und habe Hunger. Nicht jetzt. Ein paar Schritte weiter, auf leicht knarrend federnden Dielen, quer durch ein anderes Zimmer, bleibe ich vor dem Schreibtisch stehen und rüttle an der Maus den Computer aus seiner Ohnmacht. Draußen scheint noch immer die Sonne, reflektiert von der Hauswand gegenüber, zwischen leuchtend grüne Blätter hindurch, hinein zum Fenster, hinein in das Zimmer. Ein Surren rechts hinter mir, hinter hellen, weißen Wänden. Ich lausche dem Surren und verharre. Lausche dem eindringlichen Surren. Janosh hat einen Schlüssel. Soll ich öffnen? Nichts bewegt mich. Ich erwarte niemanden. Surren steht für Werbemüll und die Paketlieferung an einen Nachbarn. Das wird aufhören, das Surren. Das Surren wird aufhören.
Ich setze mich auf die ergonomisch federnde schwarze Mechanik vor dem vierbeinig gespreizten Statum. Der Bildgeber, Gestennehmer, Vermittler zwischen einem hochentwickelten Zellklumpen und einer erwachenden, relativ komplexen Rechenmaschine – beide unter Spannung –, erreicht alsbald den Zustand vertrauten Leuchtens. Dem betörenden Leuchten der Sonne. Wo war ich, bevor ich diese Stätte verließ?
„Die Mauer in unserem Kopf. Das gläserne Tabu, die Androhung, die Verheißung und die Verweigerung. Die Angst. Der Tod ist allgegenwärtig. Was sind wir anderes, als Waisen der Zeit. Ich muss Sie um Entschuldigung bitten. Nehmen Sie das nicht persönlich. Scheint heute wieder einer dieser Tage zu sein. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass es sich bei den Opfern nicht um Ihre Frau und Ihren Sohn handelt. Aber da sind andere, die ohne Zweifel Leid tragen werden. Das Problem lässt sich nicht prinzipiell leugnen.“
„Ihre Daten stimmen nicht. Wir sind nicht verheiratet. Tobias ist ihr Sohn. Das ist entweder ein schlechter Scherz oder ein böser Zufall.“
Das Tor der Einfahrt steht zur Hälfte offen, wie immer. Alles sieht aus wie immer. Wir gehen auf uneben verlegtem Pflasterstein an Mülltonnen vorbei, an Fenstern, einer Tür, den Weg nach hinten bis zum Hauseingang, und die sich nach oben verjüngende, abgenutzte Außentreppe vor dem Souterrain hinauf. Auf dem Grundstück des Nachbarn gegenüber hängt das vernachlässigte Baumhaus. Alles sieht aus wie immer. Ich schließe die Haustür auf und wir gehen weitere anderthalb, gewendelte Treppen, bis in den 1. Stock. Warum ist hier niemand?
„Wo sind Ihre Kollegen?“
„Wie ich schon sagte, das ist nicht meine Entscheidung.“
„Sie mögen diese Geräte ebenso wenig.“
„Wahrscheinlich nur der Akku entladen.“
Er greift in seine linke Hosentasche und zieht eine Karte heraus.
„Rufen Sie mich an, falls sie sich nicht melden sollten.“
Ich nehme die Karte und schiebe sie in meine rechte Hosentasche, ohne sie gelesen zu haben.
„Das ist alles sehr überraschend. Danke dennoch. Herr Martin wird mir hoffentlich mehr erzählen können.“
„Wahrscheinlich nicht. Er hat nur beobachtet, wie sie zusammen die Wohnung verließen. So zumindest seine Aussage.“
„Wann und wie die Frau und das Kind dorthin gekommen sind, hat er nicht gesehen?“
„Nein, erst später auf dem Weg zum Briefkasten, sah er die beiden im Flur liegen. Für den Fall, dass wir doch noch Fragen an Sie haben, bleiben Sie bitte die nächsten Tage in der Stadt. Das macht einen direkten Kontakt für Sie und auch für uns leichter. Ich hoffe jedoch ausdrücklich, Sie nicht wieder zu sehen.“
„Kann ich diesem Gerät und den Menschen dahinter mehr vertrauen, als ich Ihnen vertraue, oder dem direkten Kontakt? Sie jedenfalls vertraut diesen Medien nicht, meistens lässt sie das Allesdings in der Wohnung liegen, ebenso ihre Identifikation ...“
Nein, das kann nicht sein.
„Das stimmt, noch sind da nur Menschen. Reicht schon, oder? Das Beste wird sein, wir gehen jetzt gemeinsam zu Ihrer Wohnung, damit wir das klären können.“
„Wir wollten uns hier treffen.“
„Bitten Sie im Kaffee darum, ihr zu sagen, dass Sie zurück in Ihre Wohnung sind.“
Ich stehe auf. Schwanke ich? Gehe zur Theke und bezahle meinen Espresso.
„Kommt das oft vor in diesem Bezirk, Mord? Ich kann mich nicht erinnern davon gehört oder gelesen zu haben, seit wir hier wohnen.“
„Wir wissen noch nicht, was den Tod der beiden verursacht hat. Einen natürlichen Tod können wir jedoch ausschließen. Die offizielle Statistik zeigt eine sehr geringe Anzahl Tötungsdelikte.“
„Sie haben auch inoffizielle Statistiken? Warum sollten Menschen ausgerechnet hier ermordet werden? Warum Julia und Tobias? Wo ist da der Zusammenhang?“
„Zusammenhänge sind sehr subjektiv. Sie sind nicht immer wirklich oder ursächlich. Menschen werden überall getötet, zu jeder Zeit. Das Töten und der Tod, direkt oder indirekt, sind Alltag. Die Medizin, die Kunst, die Manipulation, Menschen leben vom Potential des Todes. Statistiken dienen einem Zweck. Das heißt nicht notwendigerweise, sie wären fehlerhaft, sie haben jedoch stets einen einflussreich wirksamen Bezug außerhalb ihrer statistischen Wirklichkeit.“
„Verschwörungstheoretiker?“
„Nein. Erfahrung. Heute ist das bereits mein dritter Auftrag.“
„Ein Kandidat für die offizielle Statistik?“
„Das ist nicht meine Entscheidung.“
„So früh und schon drei Todesfälle.“
„Drei Aufträge, neun Tote.“
„Hören Sie auf, das glaube ich Ihnen nicht.“
„Das hat nichts mit Glauben zu tun.“
„Da haben Sie natürlich Recht. Aber warum erzählen Sie mir das alles?“
„Der Tod, besonders der gezielte Tod, kontrolliert am stärksten. Der unkontrollierte, nicht durch Menschen Verstand erwirkte Tod, überwiegt jedoch bei weitem.“
Ein paar Vögel streifen im Gleichklang rechter Hand an den sommerlich hell erleuchteten Fassaden vorbei. Ich hebe die Waffe an, schiebe ihren warmen Lauf in meinen Mund, spüre das harte Metall zwischen Zähnen und Lippen, seine Unterseite prickelnd auf meiner Zunge, lege den Zeigefinger über den Abzug, und ziehe fast bis zum Anschlag. Vom Marktplatz steigt ein Schwarm Vögel hektisch flatternd auf, als ein Fremder an den Tisch kommt.
„Sind Sie Herr Tassling?“
„Ja, woher kennen Sie meinen Namen?“
Der Fremde hat eine Glatze, trägt ein rosa T-Shirt über verwaschenen Jeans, und glänzende, spitz zulaufende, schwarze Schuhe.
„Darf ich mich setzen?“
Was will der Typ?
„Bitte.“
Er greift in seine rechte Hosentasche und zeigt mir eine Art Ausweis.
„Sie tragen keine Waffe?“
„Doch, doch, aber doch nicht so offensichtlich.“ Er lächelt.
„Worum geht es?“
„Ich frage mich jedes Mal wieder, wie ich in dieser Situation am geschicktesten vorgehe. Sie wohnen in der Nandinstraße 42?“
„Da Sie meinen Namen schon kennen, wird das wohl auch stimmen. Was ist mit meiner Wohnung?“
„Ihr Nachbar rief uns an.“
„Jetzt erzählen Sie mir nicht, Herr Martin hat Sie gerufen, weil Tobias gestern Nacht lautstark schlecht geträumt hat.“
„Nein, er hat uns gerufen, weil in unmittelbarer Nähe Ihrer Wohnungstür eine Frau und ein kleines Kind am Boden liegen. Beide sind nicht mehr am Leben, Ursache und Zeitpunkt ihres Todes noch unbekannt. Bisher haben wir keine Anzeichen äußerer Gewalt gefunden. Da die Frau keine Identifikation bei sich trägt, können wir nicht mit Sicherheit sagen, wer sie ist. Da ist nur die Aussage von Herrn Martin.“
Gummiartige Wärme steigt meine Beine empor. Watte füllt meine Ohren. Wir schauen uns in die Augen. Die Watte sitzt in meiner Kehle, in meinem Kopf. Dann schüttel ich das von mir.
„Das kann nicht Julia sein. Sie ist vorhin erst mit Tobias zum Einkaufen. Haben Sie andere Mieter gefragt? Herr Martin müsste sie doch erkannt haben.“
„Genau deshalb bin ich hier. Er sagte, Sie würden in diesem Kaffe sitzen, wie an jedem Morgen.“
„Gewiss. Innerhalb der nächsten Minute wird einer von uns beiden diese Pistole benutzen.“
„Weil Krieg ist.“
„Krieg ist immer auf die eine oder andere Art und Weise.“
„Nein, Krieg hat immer einen Grund. Ich sehe keinen Grund, warum ich diese Waffe benutzen sollte, oder warum Sie dies tun sollten.“
„Weil Sie mich nicht kennen, weil Ihnen die Situation nicht vertraut ist, weil da kein Bezug ist.“
„Das ist absurd. Sie werden nicht vor all den Leuten auf mich schießen, nur um Ihrem Krieg etwas Fleisch zu geben. Das nimmt Ihnen niemand ab. Die werden sie wegschließen.“
„Das ist zwangsläufig unser Krieg hier draußen, und das mag so sein, wie Sie sagen, würde für Sie aber auch zwangsläufig ohne weitere Konsequenz sein, nicht wahr?“
„Vielleicht wären wir besser drinnen geblieben. Vielleicht hatten Sie bereits ausreichend Sonne. High Noon, hm? Der Sieger macht sich zum Affen? Ich bitte Sie. Das Ding ist doch gar nicht geladen.“
„Leugnen hilft Ihnen nicht. Von der Ebene der Affen haben wir uns vor langer Zeit entfernt. Doch in welche Richtung?“
Die Bedienung bringt die bestellten Getränke, ein weißes Service mit im Sonnenlicht funkelndem Teelöffel auf einem schwarzen, runden Tablett, und stellt sie vor uns auf diese blendend weiße, runde Tischdecke. Seine linke Hand fasst den Henkel der im Gegenlicht gleißenden Tasse und hebt sie elegant und geräuschlos von der Untertasse. Das ist wundervoll. Glocken beginnen in der Ferne zu läuten.
„Vorsicht, verbrennen Sie sich nicht. Ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand, auch keinen Waffenschein.“
Langsam führt er die Tasse zum Mund, an seine offenen Lippen, trinkt einen Schluck, setzt sie ebenso langsam wieder auf der Untertasse ab und lässt los. Warum beeindruckt mich dies alles so sehr, diese perfekten Bewegungen, dieses plötzlich so vertraute, so anziehende Gesicht. Er schnellt nach vorne, der Teelöffel rutscht beiseite, Metall klingt auf Porzellan, er langt zur Pistole und zielt auf mich. Überflüssigerweise schrecke ich zurück.
„Das erste Mal lässt sich nur schwer vermeiden. Probieren Sie.“
„Nicht Ihr ernst, oder?“
Ohne den Blick von ihm zu wenden, strecke ich meinen rechten Arm zögerlich über den Tisch, umfasse den glatten, kühlenden Griff und ziehe die Waffe vorsichtig aus seiner Hand. Nicht nur seine Füße sind erregend. Unverständlicherweise ist meinen Fingern die Waffe vertraut. Ich verliere mich in seinen Augen. Stechender Sonnenschein kitzelt trocken duftend in meiner Nase. Die Glocken scheinen näher zu kommen, ich spüre ihr Vibrieren in meiner Hand, in meinem Arm.
Weit über unseren Köpfen verfängt sich das grelle Licht der Sonne bei 32K im Grün dichten Blätterwerks. Mit dem was übrig bleibt, malt sie in 2880 dpi impressionistisch flimmernde Lichtflecken auf die Pflastersteine des Weges. Zu unserer Linken abgestellt, vermeintliche Selbsts der Aufbewahrten, Raum bildend, so wie zu unserer Rechten die Gitter und Mauern vor ihren Schutzstätten. Unsichtbare Vögel zwitschern fröhlich in THX zertifiziertem DTS Surround Original Sound. Hin und wieder, Schritt für Schritt, blickt Herr „Draußen ist Krieg“ nervös um sich. Die Anspannung in den Wangen schmerzt. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
Auf der zur Straße gelegenen Terrasse nehmen wir Platz. Ein runder Tisch zwischen uns. Ich sitze mit dem Rücken zum Kaffee, er mir gegenüber. Hinter ihm der leere Gehweg, die Fahrstraße und der voll geparkte Marktplatz, an dem entlang die Hauptverkehrsstraße samt Verkehr in einer Kurve unter die S-Bahn Brücke taucht. Keine Bäume hier. Reinstes Blau spannt tief hoch oben. Die Dinge um uns herum scheinen überbelichtet; die Dinge, die da sind. Ein Ober kommt an den Tisch. Mit halb zugekniffenem linken Auge blicke ich ihn an und bestelle einen Cappuccino, der Fremde einen Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Das Weiß der Decke erblindet mich beinahe.
„Sie irren sich offensichtlich. Sehen Sie?
„Des Sonnenschein trügerisches Blenden mag sie von Zeit zu Zeit erblinden.“
„Ach kommen Sie, genießen Sie ihren Kaffee, das angenehme Wetter und den Frieden.“
„Ihr Blickwinkel ist sehr eingeschränkt.“
„Na Sie reden doch die ganze Zeit nur vom Krieg. Ist Ihnen nicht furchtbar warm in dem Anzug?“
„Jetzt wo Sie das sagen, ja.“
Er knöpft mit der rechten Hand sein Sakko auf, greift unter die linke Seite, holt die Hand wieder hervor, legt sie auf den Tisch und zieht sie langsam zurück. Die Waffe bleibt liegen.
„Sind Sie irre? Warum haben Sie eine Pistole?“
„Sprache ist oft eigenartig, eigenartige Zufälle, Kombinationen von Buchstaben. Schauen Sie, zum Beispiel das Wort Waffe. Es enthält das Wort Affe. Der englische Begriff ebenso, wenn auch nicht so offensichtlich. Wundersamer Weise lässt sich aus den Buchstaben sogar ein sinnvolle Wortfolge kombinieren. Ape won.“
„Toll. Spätesten im Französischen scheitert ihr Wortspiel.“
Schweißtropfen auf seiner Stirn glitzern im streifenden Licht der Sonne, das aus dem Schlafraum durch einen Türspalt scheint.
„Ja was? Nun sind Sie ja doch herein gekommen.“
„Ich war ungeduldig und erinnerte mich. Für einen Moment hatte ich vergessen. Ich kam von draußen zu Ihnen, aus der Sonne. Draußen ist Krieg.“
„Und ich hatte gehofft, das hätten wir geklärt. Deshalb wollten wir doch wieder raus, damit Sie sehen: da ist kein Krieg.“
„Sie glauben mir nicht.“
„Das hat wenig mit Glauben zu tun.“
„Da haben Sie Recht. Genau aus diesem Grund sollten wir nicht hinaus gehen. Das wäre heute das dritte Mal.“
„Das dritte Mal. Sie haben vor mir schon bei drei anderen geklopft? Oder waren Sie heute drei mal draußen ... trotz Krieg.“
„Das ist schwer zu sagen. Drei, vielleicht waren es auch vier oder sechs.“
„Sie machen eine kleine Rundtour, hm? Haben sie denen auch erzählt, draußen sei Krieg?“
„Das war mein Anliegen, doch ich kam zu spät.“
„Querschläger, nehme ich an.“
„Das wäre eine Möglichkeit.“
„Mein guter Mann, Sie haben ein Problem.“
„Das ist nicht meine Entscheidung. Wir haben beide ein Problem. Draußen ist Krieg.“
Ich greife das Revolution aus meiner Hosentasche, streichele es wach und hohle die aktuellen Nachrichten nach vorne.
„Schauen Sie, wäre draußen Krieg, warum wird das hier nirgendwo erwähnt? Wäre eine unschlagbare Schlagzeile!“
„Sie vertrauen den Bildern dieser Maschine, mir aber vertrauen Sie nicht? Erscheint Ihnen dies nicht bizarr?“
„Erfahrung. Sie kenne ich nicht. Aber wir können ebenso gut aus dem Fenster gucken, oder besser noch, ganz direkt und wie verabredet, hinaus gehen, zum Cafe am Ende der Straße schlendern. Ich lade Sie ein. Was halten Sie davon?“
„Sie denken, diesen Datenschwarm einschätzen zu können? Aus Erfahrung? Wie lange leben Sie schon? – Sie sollten besser nicht zum Fenster hinaus sehen.“
„Die Querschläger.“
„Unter Anderem.“
„War klar. Da fällt mir ein, das muss der Bezug sein von dem Sie sprachen. Ich schaute aus dem Fenster, kurz bevor ich ihr Klopfen wahrnahm.“