Die Zeitwaisen

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Berlin–Dingle–Avranches 2017 – Fishguard–Rosslare–Duncannon, Montag 12. Juni

in: Berlin–Dingle–Avranches 2017
Fishguard–Rosslare–Duncannon, Montag 12. Juni
Reisen, Radreisen
Radix | Berlin–Dingle–Avranches 2017

-19:32-

Auf der R733, am Friedhof kurz hinter Wellingtonbridge. Blick auf die Clonmines Ruins, hinter dem Friedhof und den Flüssen Owenduff und Corock gelegen.


Die erste Teilstrecke durch Irland auf dem Weg nach Dingle, gestaltet sich flacher und trockener als gedacht. Die Strecke ist zwar kein Eyecatcher, aber angenehm und zügig zu befahren. Nach knapp drei Stunden auf dem Rad, ein paar kurzen Pausen und einer kleinen Fotosession am Friedhof kurz hinter Wellingtonbridge, rolle ich um 20:30 auf dem Parkplatz des Campingplatzes in Duncannon ein. Der „Duncannon Holiday Park“ erscheint auf den ersten Blick als nüchtern sterile Dauercamper Bastion. Kein Zelt soweit das Auge reicht, nur klotzige Campingwagen und Mobile Homes, die jedoch wie verlassene Kulisse auf unbespielter Freilichtbühne wirken: keine Menschen, keine Aktivität. Und das Auge reicht weit, die Umgebung ist flach und luftig - der Wind, der Wind, ständiger Begleiter auf dieser Tour - und liegt nur knapp 70 Meter hinter der Ostküste des Waterford Harbour. Die Rezeption, im freistehenden Flachbau direkt am Parkplatz, ist passenderweise ebenfalls verlassen und verschlossen. An der Glastür klebt jedoch ein Zettel mit Hinweis und Telefonnummer. Bin erleichtert, als jemand den Anruf entgegen nimmt, nachdem das Smart sich endlich ins Netz eingeloggt hat. Ja … hallo? Ich stünde vor der Rezeption und wolle hier für eine Nacht zelten, nur eine Person, nur mit Fahrrad und mit nur kleinem Zelt. Kein Problem, … sei in ca. zehn Minuten … Ort, solle … in der Nähe … Rezeption … warten. Entweder ist die Verbindung sehr schlecht, oder der Wind in den Ohren zu laut, kann ihn kaum verstehen. Vertreibe die Zeit mit Rad Abstellen, umrunde den Flachbau plus kleiner Wiese dahinter und entdecke Duschen und WCs. Wenig später fährt ein SUV knapp bis vor den Eingang der Rezeption. Freundliche Begrüßung, sympathischer Mann. Wir gehen hinein und erledigen die Formalitäten an einem schmalen, zwischen uns stehenden Tresen. Personalien, Geld, Quittung, Info. Bin positiv überrascht, die Übernachtung kostet nur 10 Euro. Moment, Euro? Noch besser. Zurück in Euroland! Pfund ade.

Draußen zeigt er die möglichen Zeltplätze auf. Entweder direkt hier auf der Wiese hinter dem Flachbau mit den Sanitäranlagen oder weiter hinten am Ende des Geländes. Die Duschen seien hier besser, liefen dauerhaft für einen bestimmten Zeitraum, je nachdem wie viel Geld eingeworfen werde. Die Duschen am anderen Ende des Platzes seien zwar kostenlos, der Wasserfluss versiege aber jeweils nach ein paar Sekunden und müsse per Knopfdruck reaktiviert werden. Mehr oder weniger direkt neben den WCs zelten, muss nicht sein, die umständlichen Duschen jedoch stören nicht weiter, also ab nach hinten. Wir plaudern ein bisschen unterwegs. Wieder ungläubiges Staunen seinerseits, als er sich nach der Reise erkundigt. Mit dem Fahrrad? Well.

Am anderen Ende des Campingplatzes tun sich tatsächlich noch weitläufige, so gut wie unbesetzte Wiesen auf. Vereinzelt sind Tische mit Bänken zu sehen. Lädt schon eher zum Zelten ein. Nein, gefällt sogar ausgezeichnet. Ganz am Ende das aufgeständerte Sanitärhäuschen, nicht zu dicht, nicht zu weit, top. Nahe einer Tisch+Bank Kombination, gleich neben einem anderen Zelt, scheinen Lage und Bodenbeschaffenheit gut geeignet zum verweilen. Dahinter, durch einen Weg getrennt, ein schmalerer Streifen Wiese, auf dem zwei kleine Wohnwagen mit Zeltanbau stehen. Ansonsten keine Camper zu sehen. Ein paar Kinder hopsen in der Nähe herum und schauen neugierig beim Abladen, Auspacken und Aufbauen des Zeltes zu. Letzteres klappt inzwischen perfekt und zügig. Jeder Handgriff sitzt. Auf Grund der freien Stellung im Wind, kommen ein paar mehr Abspannleinen als sonst zum Einsatz. Währenddessen immer mal wieder ein Blick zum wolkenverhangenen Himmel; wäre schick, im Trockenen draußen am Tisch speisen zu können. Bis jetzt kein Grund zur Sorge, entspann dich. An ein paar Stellen reißt die Wolkendecke sogar strahlend blau auf, nur in der Ferne schieben graue Wolkenbänder über den Himmel. Soeben den letzten Hering versenkt, kribbelt plötzlich Rauch in der Nase, beißender Geruch von Verbranntem, wohl eher nicht vom Dinnergrill. In der Nähe kein Verursacher zu sehen. Weiter vorne in Richtung Rezeption sind Rauchwolken zu erkennen. Deren Ausdehnung deutet jedoch auch nicht auf Lagerfeuer oder Grill hin. Aus dem Augenwinkel sehe ich rechterhand plötzlich ein paar Leute stehen. Schweigend gucken sie in die gleiche Richtung zum Rauch hinüber. Scheint eine größere Familie zu sein, wahrscheinlich aus dem Nachbarzelt. Nahezu synchron schwenken unsere Köpfe und wir blicken uns an. Bad stench, isn't it? fragt ein kleiner, stämmiger Mann mit rauher, relativ hoher Stimme. Komme ins Gespräch mit einer irischen Großfamilie aus Dublin, die hier ihren Wochenendurlaub verbringt. Smalltalk mit dem Familienoberhaupt, übliches Erstaunen ob der Radtour. Dann drängen mich Hunger und Sorge um das Wetter zum Bereiten des Abendessens, wird draußen sicherlich nicht wärmer. O.k, man sehe sich, schwupps eilt er davon in Richtung Toiletten - we'll talk later, ruft er noch hinterher - und der Rest der Familie kehrt geschwind ins Zelt zurück.

Wenig später ist von dem Rauch nichts mehr zu sehen und zu riechen. Verteile Kocher, Teller, Besteck und Zutaten auf dem Tisch. Knoblauch pellen, halben Liter Wasser in den Topf, Brennerkopf entzünden, knapp 2 Minuten später runter regeln, eine Portion halbierte Spaghetti ins sprudelnd kochende Wasser legen, den Deckel von der Fischdose ziehen, nach 7 Minuten das Wasser durch den Topfdeckel abgießen, Knoblauch, Salz, Pfeffer und Fisch in den Topf geben, in der noch vorhandenen, reichlichen Hitze kurz ziehen lassen und ab auf den Teller damit. Liebe den Reactor. Der Wind macht nur dem Müllbeutel Probleme. Der flattert an einem der Tischbalken gesichert wild hin und her. Endlich mal wieder eine einfache, vollwertige Mahlzeit, nach all dem frickeligen Gaststätten Futter. Keine Ahnung warum das jedes Mal erneut so eine Freude ist. Sicherlich nicht nur wegen des schnellen, unkomplizierten Kochers - die Zubereitung hat insgesamt nur 9 Minuten gedauert. Die Bedienung bringt einfach Spaß, ist aber nichts für Grobmotoriker. Lecker wie immer, und zum Nachtisch runden ein paar Kekse den Genuss ab. Dann macht sich Müdigkeit breit, Gähnen, der Blick fixiert wie hypnotisiert in die verschwommene Ferne. Schnell noch Duschen und Zähne putzen, bevor die Disziplin nicht mehr ausreicht, dem Ruf des Schlafsacks etwas entgegenzusetzen.

Der aufgebockte Sanitärblock kommt wesentlich rustikaler und rudimentärer daher, als die Anlagen im Eingangsbereich bei der Rezeption. Aus den Wasserhähnen an den Waschbecken fließt nur kaltes Wasser. Bin gerade mit dem Zähne putzen fertig und spüle den Mund aus, da schwingt knapp links die Tür auf und das irische Familienoberhaupt stürmt mit einem breiten „Hello“ hinein - schwache Blase, zu viel Flüssigkeitszufuhr, oder Einhaltung des abgegeben Versprechens. Er streift geschwind hinter mir vorbei zu den Urinalen, ist blitzschnell bei der Sache, beginnt zu pinkeln und lautstark zu plauschen und dreht dabei seinen Oberkörper um fast 180 Grad - keine Ahnung wie er das macht -, um Augenkontakt zu halten. Als wären wir bei einem Kaffeekränzchen oder am Tresen einer Bar. Erstaunlich was alles geht. Mache ihn auf das fehlende Warmwasser aufmerksam, und er meint, da müsse er mal mit dem Betreiber reden, denn auch die Duschen würden nur kaltes Wasser versprühen. Super. Schätze allerdings, das mit dem Wasser ist ein Feature. Deshalb ist das Duschen hier natürlich kostenlos. O.k., Zähne putzen reicht mir für den Abend. Kein Bock auf kaltes, erfrischendes Wasser und kein Bock auf den Marsch nach vorne zum kostbaren Warmwasser. Fühle mich nicht wirklich verschwitzt von der kurzen, wohltemperierten Fahrt mit dem Rad. Duschen verschoben auf Morgen früh.

Mehr oder weniger frisch eingemummelt im Schlafsack, beginnt der späte Abend mit deutlich hörbaren, fröhlichen Gesprächen und lauter aber nicht unangenehmer Musik von nebenan. Irgendwelche gängigen amerikanischen Filmmusiken aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Bald zieht sich die Familie jedoch in ihren Campingwagen zurück und es wird ruhiger. Schade, die Musik war eigentlich ganz passend zum Wegdösen.

Die windige Nacht bleibt glücklicherweise trocken und auch das Kondenswasser am Morgen hält sich in Grenzen. Die Umgebung und deren Bewohner scheinen noch zu schlafen. Leise machen. Die Duschen vorne funktionieren problemlos, nur warum die Münzkästen wieder mal außerhalb der Duschkabinen angebracht sind, erschließt sich auch hier nicht. Für einen Euro Zeit reicht jedoch, ohne zwischendurch klitschnass in den Vorraum latschen zu müssen. O.k., Zelt und Zeug packen, Haferflockenfrühstück, Clo, Zähne putzen, Wasser auffüllen. Wohl zu viel getrödelt. Rudere erst um 9:45 wieder rhythmisch mit den Pedalen. Ziel Fermoy. Mindestens 121 Kilometer liegen noch voraus an diesem Tag und noch drei Tage bis Dingle.

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