Die Zeitwaisen

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Berlin–Dingle–Avranches 2017

Fishguard–Rosslare–Duncannon, Montag 12. Juni

in: Berlin–Dingle–Avranches 2017
Fishguard–Rosslare–Duncannon, Montag 12. Juni
Reisen, Radreisen
Radix | Berlin–Dingle–Avranches 2017

-10:47-

Fishguard Fährhafen, warten auf den Check-In.


Was zuvor geschah:

Frühstück, same procedure as yesterday, nur das die hektische Kaffeebedienung ihren Kaugummi beinahe ins Rührei spuckt. Lecker. Irgendwie auch Atmosphäre. Die Klamotten sind schon recht gut trocken, besser aber so lange als möglich in Luft und Sonne hängen lassen. Erstmal Zähne putzen, Wasserflaschen auffüllen, Clo. Dann Hin- und Hergeducke unter der voll behangenen Wäscheleine beim Verstauen all der verstreuten Utensilien, und erst ganz zum Schluss die Klamotten rein in die Packtasche. Kein Stress, der Check-In nach Rosslare beginnt laut Ticket erst um 10:45 und endet um 12:20. Reichlich Zeit, sind ja nur ein paar hundert Meter. Hole das Rad aus dem Schuppen, lade auf, und los gehts. Erstaunlicherweise ist das Wetter fantastisch. Blauer Himmel, Sonne, warm und kein Regen in Sicht. Am Ferry Terminal stehen schon ein paar wenige PKWs vor den Abfertigungshäuschen. 15 Minuten später rollen die Fahrzeuge los, der Check-in beginnt.

Vor dem Travel Center linkerhand fallen zwei Räder auf, eines mit voll bepacktem Anhänger. Sind die einzigen weiteren Fahrräder am Check-In. Reisende Radler? Zwei Frauen kommen aus dem Gebäude und bleiben bei den Rädern stehen. Nach der Kleidung zu urteilen, müssen das die Fahrerinnen sein. Eine von beiden sieht herüber und kommt näher. Hinter der großen Sonnenbrille und dem Sonnenhut ist nicht viel zu erkennen. Nach Art ihrer Bewegungen und des Sprechens wird sie so in den 20igern sein, macht jedenfalls einen jungen, agilen Eindruck. Sie spricht English mit französischem Akzent. Ob ich meine Tickets schon hätte. Ja, alles dabei. Sie noch nicht, und an diesem Check-In würden radelnde Reisende nicht abgefertigt, hätten sie im Travel Center erfahren. Ah, und wo sei der Check-In für Radfahrer? Das wüssten sie auch noch nicht so genau, sie müssten gleich nochmal rein, um Tickets zu kaufen, dann würden sie nochmal fragen. Ah ja, danke für den Tipp, versuche trotzdem mal, ob das hier klappt. Grins. Schräger Blick, o.k.. Sie geht wieder zurück zu ihrer Freundin. Warum sollten hier keine Radfahrer durch den Check-in dürfen, und wenn nicht hier wo denn dann? Ja, denkste, da winkt schon die Frau aus dem Schalterhäuschen und erklärt, dass Radfahrer und Fußgänger am Bahnhof abgefertigt würden. Mag das kaum glauben. So ein Unsinn, die Radfahrer nicht mit dem anderen fahrenden Verkehr zusammen auf die Fähre zu leiten. Was für ein Luxus dagegen in Hoek van Holland. Schlendere mit dem Fahrrad zu den beiden Frauen und verkünde die frohe Botschaft; ihre Info sei korrekt gewesen. Wir stellen uns kurz vor, und was für ein Irrtum, denn da sind Mutter und Tochter unterwegs. Erzähle den beiden, hätte sie für Freundinnen gehalten. Das gefällt der Mutter, der Tochter eher weniger. Sie hätten ihre Tickets immer noch nicht, überlegen hin und her, ob sie online kaufen sollten oder im Travel Center, wo seien die wohl billiger, und wo ich denn meine her hätte. Online geordert, lange vor der Reise. Sie tippt auf ihrem Smart herum. Ich gucke zu. O.k., würde mich schon mal auf den Weg zum Bahnhof machen, müsse am Ende der hinter dem Travel Center verlaufenden Straße liegen, wir sähen uns, bis später.

Keine Ahnung woher diese treibende Unruhe kommt, will endlich aufs Schiff. Das Auffinden der Ausfahrt aus dem Check-In Bereich, beziehungsweise der Zufahrt zur Straße zum Bahnhof, gestaltet sich komplizierter als angenommen. Nicht immer ist der kürzeste Weg der korrekte. Ah, endlich, dann halt hier entlang. Pedallieren in knallender Küstensonne, als wäre da ein Rudel Verfolger dicht auf; mach langsam Alter. Fahre etwas gelassener die lange, leere, Straße entlang, bis zu einer Schranke, schummel auf dem Fußweg dran vorbei, und weiter zum Bahnhof. Niemand zu sehen, ohrenbetäubende Stille. Wie ausgestorben. I'm Legend feeling. Schiebe das Fahrrad bei strahlendem Sonnenschein gemächlich die Auffahrt zum Bahnsteig hinauf, und entlang dem wenig sprechenden, sich weit in die Tiefe erstreckenden Bahnsteiggebäude, auf der Sucher nach einem öffentlichen Zugang. Gefühlt fast am Ende des Steigs, ist hinter einer Glassfront ein großer, leerer Raum mit ein paar Stuhlreihen zu sehen. Tür ist ebenfalls vorhanden. Sollte passen. Hinein samt Fahrrad und weiter durch den spärlich möblierten, leicht düsteren Warteraum bis zum noch unbesetzten Check-In Schalter. Ein Mann, der weiter hinten in den Räumlichkeiten zu sehen ist, wird aufmerksam und kommt nach vorne an den Tresen; ob er mir behilflich sein könne. Ja, Entschuldigung, ob das hier der Fährzugang für Radfahrer sei. Korrekt, da sei ich hier richtig, Check-In sei aber erst ab 12:00 Uhr. Auf meinem Ticket stehe doch aber …. Das gälte nur für den motorisierten Verkehr. Aber wieso stehe dann da … ich hätte doch nur ein Fahrrad gebucht …. Dazu könne er nichts sagen. Egal. Den Boarding Pass könne er jetzt schon ausstellen, der Einlass zur Fähre beginne aber definitiv erst um 12:00 Uhr. Boah, noch knapp eine Stunde. Nicht wirklich reizvoll, hier zu warten, also zurück zu den beiden Französinnen. O.k., hätte auch gleich dort bleiben können.

So sind sie denn auch verwundert über den Rückkehrer. Radfahren mache halt Laune, grins, nein, Check-In sei halt erst in einer Stunde offen, und alleine am Bahnhof warten sei mir zu öde erschienen, mit ihnen zu plaudern sei doch interessanter, und ich wüsste nun immerhin schon wo wir hin müssten, könnten wir ja zusammen fahren, grins, ich vorne weg, grins. Was für ein albernes Geschwätz, die beiden wären ja eh gleich nachgekommen. Tickets haben sie inzwischen auch. So raufen wir uns zusammen und radeln los, diesmal etwas langsamer. Der schwer beladene Anhänger am Rad der Tochter macht einen deutlich labilen Eindruck. Sie scheint nicht wenig Geschick und Balance aufbringen zu müssen, um das Teil so zu manövrieren, dass Anhänger und Fahrrad nicht umkippen. Wie das? Der Anhänger hat nur ein Rad, wirkt sehr fragil und mit der riesigen Gepäcktasche überladen. Aber sie packt das. In aller Ruhe fahren wir die kurze Strecke zum Bahnhof. Kommt mir vertraut vor, radel den Weg zum dritten Mal.

Im Warteraum setzen wir uns auf eine Bank und plaudern weiter, ohne Brille und Hut. Und ja, wir gehören wohl +/- der gleichen Generation an. Ihre Tochter könnte so um die 20 sein. Sie machen sichs gemütlich und befördern dies und jenes zum Futtern aus ihren Taschen. Unter anderem eine Packung mit ein bis zwei verbliebenen Schokoreiswaffeln und eine Dose Tunfisch, die beide genüsslich auslöffeln, und deren Rest die Tochter sich lässig in den Mund kippt. Habe Mittagessen auf dem Schiff geplant, wenn schon denn schon, lehne deshalb die freundlich angebotenen Leckereien ebenso freundlich ab, bis auf die köstlichen Waffeln. Sehr hübsch das alles. Wie vermutet kommt sie aus Frankreich, aus dem Süden. Da sei ich auch schon mal gewesen. Wo denn dort? Mit dem Wohnwagen die Küste entlang, Osterbesuch bei der Nichte meiner Freundin. Monaco und Nizza würden mir noch einfallen, und Antibes, sei schon 10 Jahre her. Ach nein, das sei doch wirklich eine ganz andere Gegend, sie wohne bei Toulouse, sei viel schöner dort. Ihre Tochter lebe in Kanada und sei für die gemeinsame Tour zu Besuch in Europa. Ihr Ex sei Amerikaner. Ah, daher das sehr gute Englisch. Wer hätte gedacht, dass ich mich auf einer Überfahrt von Wales nach Irland mit einer Französin ausgezeichnet auf Englisch unterhalten würde. Das macht Hoffnung auf weiterhin einfache Verständigung im Frankreich Teil meiner Tour, sofern sich diese Begegnung verallgemeinern lässt. Spreche und verstehe Französisch im Gegensatz zum Englischen leider nur sehr fragmentarisch; was halt so hängen geblieben ist aus dem wenig erquicklichen Schulunterricht. Die beiden sind mit dem PKW bis nach Wales gefahren und wollen jetzt mit dem Rad rüber nach Irland, immer der Nase nach und gänzlich ungeplant Richtung Norden, stünden also erst am Beginn ihrer Tour. Ich frage nach dem Anhänger, und ob sie gut damit zurecht kämen. Nein, da seien sie auch nicht ganz zufrieden, hätten den inklusive der Tasche erst hier vor Ort besorgt, besorgen müssen, da der ursprüngliche Plan, das Nötige irgendwie auf den Gepäckträgern unterzubringen, nicht geklappt hätte, mehr Gepäck als gedacht, speziell Lebensmittel. Von denen hätten sie unter Umständen allerdings auch zu viel mit. Bin gespannt, wie weit sie mit dieser Konfiguration kommen werden auf den zahlreichen Hügeln Irlands, will sie aber nicht all zu sehr entmutigen, sofern das überhaupt möglich wäre. Zumindest Anne, so heißt die Mutter, scheint sehr optimistisch, unbekümmert und wohlgemut. Sie liebe das draußen Sein in der Natur, das Laufen auf Gras unter freiem Himmel und die Gesellschaft der Schafe in Irland. Ihrer Tochter graule zumindest vor der Überfahrt, Schiffe seien nicht so ihr Ding.

Schwupps ist die Zeit um und wir dürfen auf die Fähre … im Moment die einzigen, die hier zusteigen. Flüchtige Gepäckkontrolle, muss den Rucksack öffnen, doch der junge Mann wirkt nervös, als wäre ihm das unangenehm. Über sonnige Stege schieben wir unsere Räder hinein in die Fähre. Der Abstellplatz und die Befestigungsmöglichkeiten unter Deck wirken nicht Vertrauen erweckend. Einfache Seile, die vor einer Stahlwand an Abflussrohren oder dergleichen befestigt sind. Keine extra Abstellbügel. Das war auf der Fähre nach England besser gelöst. Wird schon schief gehen, sind ja nur etwas mehr als 3 Stunden Fahrt. Spüre inzwischen leichten Hunger, auf zum Restaurant. Die beiden wollen derweil das Schiff erkunden.

Das Essen ist so lala, geschmacklich o.k, aber die schwedischen Fleischklöpse, well, der Fleischkonsum nimmt überhand auf der Tour. Sehe dem nächsten Zeltplatz und der abendlichen Ration selbst gekochter Spaghetti mit Knoblauch und Dosenfisch, schon mit Freude entgegen. Mit voll geklopstem Magen torkele ich sicher durchs Schiff und mache mich mit den Decks vertraut. Der Kahn hat seine besten Tage hinter sich, definitiv. Abgewetzte Teppiche, ausgeblichene Farben und Rost an den Fensterrahmen. Kein Vergleich zu dem quasi Luxus auf dem Schiff rüber nach England.

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