Die Zeitwaisen

Textlich Bildlich Klanglich Denklich

Berlin–Dingle–Avranches 2017 – Cymer–Carmarthen, Freitag 9. Juni

in: Berlin–Dingle–Avranches 2017
Cymer–Carmarthen, Freitag 9. Juni
Reisen, Radreisen
Radix | Berlin–Dingle–Avranches 2017

-22:50-

B&B Zimmer im Spilman Hotel in Carmarthen.


Drei Stunden zuvor, Ankunft in Carmarthen, der Legende nach Herkunftsort des legendären Merlin. Hunde und Katzen fallen vom Himmel. Der Regen lässt jedoch bald nach und wird zu einem feinen Niesel. Viel Volk ist unterwegs auf den dicht bebauten Straßen, möchte sagen, touristisch belebt das Örtchen und irgendwie heimelig angenehm zu durchfahren. Begegne in der Fußgängerzone einer Art Prozession, einer kleinen Gruppe, kostümiert in farbenfreudiger, traditioneller Kleidung, wichtig wirkend, determiniert und unbeirrbar voranschreitend. Habe irrerweise die Idee, einen der Anführer nach Übernachtungsmöglichkeiten zu fragen. Der verweist, freundlich weiter marschierend und ohne den Kopf zu wenden, auf später, nachdem sie angekommen seien. Was auch immer das bedeuten mag. Folge ihnen kurz, schätze aber, das wird nix, fahre an ihnen vorbei und sehe sie, zurück blickend, in ein Restaurant einziehen. Frage noch zwei weitere Passanten, die aber auch von keinem B&B wissen, scheinen ebenfalls Touristen zu sein. Gut, einfach weiter fahren, der Nase nach, keine Lust auf langes Suchen, Fragerei und Experimente bei dem Wetter, auch wenn diese Vorgehensweise widersprüchlich, wenn nicht kontraproduktiv erscheinen mag. Andere würden zum Smart greifen. Zu mühsam, momentan nicht im Fluss der Dinge.

Fahre, immer noch triefend nass, an einer mit „Hotel Entrance“ beschilderten, unscheinbaren Durchfahrt vorbei, wieder zurück und hinein. „Entrance“ ist sicherlich nicht der Name des Hotels. Die Passage führt auf einen Hof, auf dessen gegenüberliegenden Ende ein Eingangsportal zu sehen ist. Ob das wohl der Zugang zum Hotel ist? Klar. Von hinten durch die Brust ins Auge zur Rezeption. Hintereingang erwischt. Wie erwartet, ist auch hier gerade noch ein passendes Zimmer frei. Etwas teurer als bisher, speziell nach der Entscheidung fürs umfangreichere Continental Breakfast plus, aber was solls. Nur Porridge haben sie nicht. Das sei schade, wirklich nicht? Kurzes Überlegen und Nachfragen in der Küche. Normale Haferflocken hätten Sie, die könnten Sie entsprechend zubereiten. Ja, gerne, würde passen. Ist sogar noch besser als die üblichen, super feinen Porridge Spezialflocken.

Zuerst das Gepäck abladen. Der Regen hat angenehmerweise weiter nachgelassen. Frage anschließend an der Rezeption nach einer sicheren und trockenen Unterstellmöglichkeit für das Fahrrad. Eine vom Rezeptionisten herbei gewunkene, bis dahin unbeteiligt im Foyer sitzende Frau, bittet ihr zu folgen. Quer über den nun wieder stärker verregneten Hof, Kapuze über den Kopf gezogen, mit der hilfsbereiten Frau entspannt über Wetter und Rad plaudernd, hinein in einen anderen Flur des Gebäudekomplexes, der anscheinend auch zum Hotel gehört. Kapuze runter. Nur das Personal des Hotels und eine weitere Person die dort wohne, hätten Zutritt zu diesem Bereich. O.k., werde schon passen. In einer Nische neben einem zweiten Zugang zu Flur und Treppe, quasi fast direkt vor der Treppe, könne ich das Rad abstellen. Gegen Wegtragen zwar sinnlos, sichere ich das Rad trotzdem per Faltschloss. Auf dem Rückweg machen sich starkes Hungergefühl und Appetit auf Spaghetti bemerkbar. Frage die sympathische Frau, ob in der Nähe ein italienisches Restaurant zu finden sei. Sogar ein sehr gutes, gleich um die Ecke, nicht weit vom Hotel, könne sie wirklich empfehlen. Sie beschreibt den Weg, verstehe jedoch den Straßennamen nicht. Sie wiederholt ihn ein paar Mal, dann macht es plötzlich Klick. Wales halt.

Doch zuerst die Arbeit. Gepäck zwei Treppen hinauf ins Zimmer schleppen, duschen, ins Ausgehoutdoorzeugs schlüpfen und los gehts. Das Restaurant ist tatsächlich gleich um die Ecke, in der „Jackson’s lane“. Der Regen hat anscheinend erneut nachgelassen, verliere langsam den Überblick, nur ein sehr feiner Niesel behaucht das Gesicht. Betrete noch froher Erwartung die gemütlich in schmaler Gasse gelegene Gaststätte und ahne doch sogleich Böses. Verharre im Eingangsbereich. Der Laden ist einladend proppenvoll, optisch wie akustisch. Fröhlich schwätzende Leute in proper Kleidung rundherum. Eine Bedienung kommt herüber. Ob ich denn reserviert hätte? Nein? Einen Moment bitte. Ein Moment vergeht. Nein, leider sei kein Tisch mehr frei, vielleicht in ein bis zwei Stunden. Umpf. Schade. Trappel leicht missgestimmt hinaus ins Nasse und ja, dann schauen wir mal kurz die Straßen rauf und runter, was da noch so an Lokalitäten bereit steht. Ein bis zwei Stunden, das wird denn doch zu spät. Leider poppt unterwegs kein weiteres italienisches Restaurant auf. Stoppe an ein paar anderen Gaststätten und schaue kurz auf die Karte und hinein in die gute Stube; meist ebenfalls satt gefüllt, und auf der Karte nichts, was die Spaghetti aus dem Kopf zu vertreiben mag. Doch sind Spaghetti wirklich erforderlich? Ja, sind sie, und wenn da nur der eine Italiener ist, dann wird dort auch gespeist.

Finde sogleich zurück zu dem Restaurant, wie magisch angezogen, werde wiedererkannt und frage noch einmal, und ob denn vielleicht etwas früher ein Platz frei werde, ihr Restaurant sei mir extra empfohlen worden, und …, ich solle kurz warten, … dann kommt sie wieder, bittet mich ihr zu folgen, weiter hinein, zur einer Art Empfang, Bar, Theke, Zugang zur Küche. Der Mann hinter der Theke erklärt erneut, dass derzeit leider kein Tisch frei sei, vielleicht in einer halben Stunde, er könne dies aber nicht garantieren, überlegt kurz und meint dann, ich solle ihm meine Telefonnummer geben und sie würden anrufen, sobald etwas frei werde, ob das für mich o.k. sei, ob ich dann gleich herkommen könne. Ja, klar, mein Zimmer sei gleich um die Ecke im Hotel Spilmann. Super. Was für ein Service. Weiß leider die Handynummer nicht auswendig, rufe die nur selten an. Glücklicherweise das Smart mitgenommen. Krame es nervös aus der Jackentasche, in der Hoffnung, dass auch die eigene Nummer gespeichert ist. Ist sie, unter Kontakte gleich die erste. Die Bedienung schreibt die Nummer geschwind auf eine schon reichlich bekritzelte Metalltafel an der Wand. Wunderbar. Ganz kurz flammt so ein hilfloser Datenschutzgedanke auf und verglüht. Schnell ins warme, trockene Hotel; die Nieselei ist stärker geworden, langsam leeren sich die Straßen, werden dunkler und kühler.

Nur zwanzig Minuten später klingelt das Smart, der Sound alter, amerikanischer Telefone, der unvergessliche Sound von Homer, IRC Client für den Mac, in Cubase leicht modifiziert. Scheint Jahrhunderte her, oder erst gestern. Schwupps zurück im Restaurant, freundlich begrüßt von der weiblichen Bedienung. Bin in freudiger Erwartung auf einen lecker mit Spaghetti gefüllten Teller und weitere Schmankerl. Folge ihr nach oben, in einen zweiten, länglichen Gastraum. Der ist unterteilt in zwei, drei Bereiche auf versetzten Niveaus, klein und gemütlich – viel Holz und Naturstein an Boden und Wänden, in Kontrast zu einer glatt verputzten Decke in Form eines Mansarddaches – aber gleichzeitig auch steril, aufgeräumt, kühl. Weiß nicht, wie dieser Eindruck zustande kommt, das Licht, die Beleuchtung, die Anordnung der Tische, die Decke? Nehme Platz an der Längsseite des einzigen unbesetzten Tisches, mit dem Rücken zum Fenster. Immer noch gut besucht.

Eine männliche Bedienung bringt die Speisekarte, wirkt distinguiert. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges, vier Gäste bei denen nicht genau zu bestimmen ist, ob sie sich zur mittleren oder oberen Upperclass der Einheimischen rechnen oder aber Touristen sind. Eine der drei Damen ist extrem fett. Aunt Marge style. Nach dem Aufblasen. Die Dame scheint allerdings um die 30 Jahre jünger. Blättere durch die Karte, auf der Suche nach einem Spaghetti Gericht, und blicke währenddessen hin und wieder fasziniert zu dem Vierergespann. Finde immerhin fünf Variationen mit Spaghetti. Die Beweggründe, letztendlich „Linguine Al'Granchio“ auszuwählen, erschließen sich im Nachhinein nicht wirklich. Vielleicht allein die Erinnerung an eine Crabmeat Speise unter Diplomaten in Nairobi. Werde diese Variante eines Nudelgerichts jedenfalls nie selbst zubereiten. Der Hunger ist groß, und so wird das Hauptgericht mutig um eine Vorspeise erweitert, „Focaccia and Ciabatta bread“.

Nach einer kurzen Weile macht der Mann erneut halt am Tisch. Bestelle die ausgewählten Leckereien zusammen mit einem Perino und einem großen Glas Sprudel. Das bald von ihm gebrachte Brot ist lecker, verfeinert mit Olivenöl und Salz noch leckerer. Wenig später, Brot noch nicht ganz aufgeputzt, bringt er die Nudeln in Krabbensoße, schon etwas lockerer und weniger distinguiert. Krabbe im Sinne von echter Krabbe, nicht im Sinne von Nordseegarnele. Ups. Hm. Trifft visuell nicht so ganz das Erwartete. Geschmacklich, haptisch und vom Handling her ebenso wenig. Die wässrige Sauce und das Krabbenfleisch lassen sich nur schwer zusammen mit den Nudeln aufnehmen. Genau genommen ist die Mischung geschmacklich doch nicht so unlecker, allein zu den zahlreichen Stücken und Splittern des Krabbenpanzers stellt sich die Frage, ob das so soll, also feature or bug. Hoffentlich hauen die keine Plombe raus oder schlimmeres. Das Knirschen und Knacken ist schon arg, und stört den Genuss erheblich. Well, vielleicht wären simple Spaghetti Carbonara doch beglückender gewesen, vielleicht fehlt hier das Gen des Feinschmeckers. Vertilge den Hauptgang brav, bis auf die gröbsten Schalenbruchstücke. Nehme mal an, die sind nicht zum Verzehr gedacht.

Gegenüber treffen inzwischen üppige Nachspeisen ein, nach üppigen Vorspeisen und üppigen Hauptspeisen. Sicherlich war heute keiner aus dem Vierergespann 90 Kilometer in Wind und Wetter mit dem Fahrrad unterwegs, oder hat durch andere Tätigkeiten eine entsprechende Menge Kalorien verbrannt. Egal, jedem seine Freude. Bestelle deshalb ebenfalls noch einen Nachtisch, Tiramisu. Wird schnell gebracht und ist ebenso schnell wieder weg, war lecker. Die Zahl der unbesetzten Tische ist derweil gestiegen und gleich kommt noch einer hinzu. Gebe der Bedienung – jetzt gar nicht mehr distinguiert, sondern locker freundlich – Zeichen zum Zahlen. Und ab durchs nun menschenleere, stille Dunkel, Richtung gemütliches Bettchen im tief weinroten Zimmer.

Suche